Samstag, 18. Juli 2020

Selbstbezogenheit, Vorwurfshaltung, Einsamkeit, Ängste und Depressionen

Diethelm

Ein Beispiel – psychologisch erklärt

Meine Kindheit war nicht einfach – genauso wie bei den meisten Menschen in unserer Kultur. Alle Eltern können nur das weitergeben, was sie selbst in ihrer Erziehung mitbekommen haben. Leider waren auch meine Eltern nicht informiert, wie sie mich und meine jüngere Schwester – ihre Kinder – verstehen können, und waren ihren unbewussten Gefühlen ausgeliefert.

Ich wuchs mit einer egozentrischen Mutter auf und einem Vater, der mich sehr stark auf Abstand hielt. Er entzog sich der kritisierenden Mutter, indem er sich am Abend und am Wochenende in der Politik betätigte. Es herrschte deshalb ständig Streit zu Hause. Meine Mutter kümmerte sich sehr um mich, vor allem weil sie mit einem kleinen Baby selbst eine Bedeutung unter anderen Menschen erhielt. Sie führte mich in eine Welt ein, in der sie alles für mich erledigte und sich dabei durch meine Freude wichtig fühlte. Wenn ich hilflos war, war sie gerührt und so lernte ich zu wenig und gab schnell auf.

Meine Schwester kam nach drei Jahren auf die Welt. Schon vorher verlor ich meine Bedeutung bei meiner Mutter immer mehr, wie ich später erfuhr. Sie wurde von allen und auch meinem Vater wegen der Schwangerschaft umsorgt und interessierte sich weniger für mich. Sie ärgerte sich öfter, weil ich so schnell schrie und so wenig bewältigen konnte. Das steigerte sich noch, als sie sich um meine Schwester kümmern musste und ihr das Leben mit uns zwei Kindern über den Kopf wuchs. Ich wurde wegen dieser massiv verringerten Zuwendung immer schwieriger: Ich zog mich zurück, weinte schnell, verstand alle Anweisungen nicht, führte sie nicht aus und lehnte zudem meine Schwester ab. Diese konnte sehr bald alles schneller und besser, was mich noch eifersüchtiger machte. Die Eifersucht blühte so in mir auf, dass sie mich fast nicht leben liess. Meine Eltern hielten mir diesen Umstand immer wieder vor Augen, was mich in Verzweiflung trieb, aber ich verhielt mich so, als ob mich das nicht berühren würde.

Vor dem Gefühl, weniger zu können, schützte ich mich, indem ich mich bald für nichts mehr interessierte. Ich fühlte mich so stark von der ganzen Familie abgelehnt und kritisiert, dass ich innerlich ganz starr wurde und mich fremd unter den Menschen fühlte. Ich unterstellte bald, dass ich allen anderen sowieso egal war und baute einen allgemeinen Ärger gegen alles und jeden auf.

Sobald sich jemand mit mir befasste, hatte ich viele Vorwürfe gegen die ganze Welt parat. Die Menschen schienen mir so stark gegen mich zu sein, dass ich schon in der Primarschule täglich mitten in der Nacht den Wecker stellte, um einige Stunden ohne einen – kritisierenden – Menschen für mich alleine etwas machen zu können. Da ich mir nicht viel zutraute, handelte es sich dabei um Filme schauen, am Computer spielen oder Musik hören. Das waren für mich die schönsten Stunden in meinem Leben. Ich bewegte mich immer weiter von den Menschen weg, war immer mutloser und wollte doch wie jeder eine Bedeutung bei den Menschen haben.

Mit meinem so entstandenen Minderwertigkeitsgefühl fand ich keinen Weg, wie ich positiv unter den Menschen wirken könnte. In dieser Situation verirrte ich mich in eine ganz schiefe Gefühlswelt und baute diese immer mehr aus. Ich spürte immer öfter einen Triumph, wenn ich die anderen an der Nase herumführen konnte und wenn ich sie nicht brauchte.

Ich bewegte mich unbewusst also darauf hin, mich von anderen auf Abstand zu halten und diese sogar auf dem unbewussten Boden meiner Gefühlslage gezielt vor den Kopf zu stossen. Ich bemerkte meine Haltung teilweise und fühlte mich oft stark dabei. Teilweise fühlte ich mich leicht beschämt, aber rechtfertigte mich dann mit der Feststellung, dass mich andere schlecht behandelt hätten oder mich nicht verstünden, selbst wenn sie mir viel geholfen hatten.

Dieser Triumph, selbst oder gerade bei sehr hilfreichen Menschen, erschien mir wichtig, weil ich nicht eingeführt war, wie ich mit anderen Menschen richtige Freundschaften aufbauen konnte. Unglücklicherweise griff ich sogar unbewusst vermehrt auf diese Haltung zurück, wenn ich dank anderer Beziehungen bei der Arbeit oder von Helfenden mich weniger depressiv fühlte.

Ich leistete mir mehr ablehnende Gefühle, die aus einer grundlegenden, falschen Meinung über das Zusammenleben stammen. Um im Leben weiterzukommen und mich nicht nur weniger depressiv zu fühlen, musste ich diesen Zusammenhang durchschauen, was mir trotz vieler Gespräche darüber jahrelang kaum gelang. Es fiel mir schwer, meine vermeintliche Stärke im Zusammenleben aufzugeben und die Menschen als Freunde anzuschauen, mit denen ich zusammenarbeiten könnte.

Als ich älter wurde, hatte ich immer grössere Probleme, mich im Leben zurechtzufinden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es Menschen gab, die mich mochten. Mir war es auch nicht möglich, Menschen zu vertrauen. So entfernt fühlte ich mich. So blieb ich immer für mich und zeigte den anderen, dass sie mir nicht zu nahe kommen sollten. Ich hielt es aber oft gar nicht aus zu sehen, wie sich andere gut verstanden und wurde ganz aufgeregt. Sobald es ging, machte ich mich deshalb über andere lustig – das war meine Verbindung zu anderen. Ich verstand gar nicht, warum mir immer abwertende Äusserungen einfielen und ich nicht damit aufhören konnte, auch wenn mich andere immer wieder darauf hinwiesen und sich deshalb viele von mir abwendeten. Ich kam nicht auf den Gedanken, dass ich ebenfalls gute Freunde haben und etwas im Leben erreichen könnte.

Um diese beschriebene Eifersucht nicht mehr zu spüren, entzog ich mich also im Gefühl von der Welt. Ich war ganz verhärtet und allen gegenüber ablehnend. Zutrauen in mich selber und in meine Fähigkeiten waren fast gar nicht vorhanden. Ich fühlte mich ständig hilflos. Mit Hilflos-Sein konnte ich darüberhinaus verhindern, dass man irgendetwas von mir erwartete, was ich sowieso meinte, nicht gut machen zu können.

Und gleichzeitig erhielt ich sehr oft Zuwendung, wenn ich so hilflos war. Das konnte ich aber gar nicht schätzen. Im Gegenteil. Mir fiel buchstäblich nichts ein. Ich hatte keine Ideen, was ich mit anderen reden konnte. Ausser der erwähnten einen Sache: Ich beklagte mich ständig über alle anderen und über die Welt und war sofort dabei, wenn jemand über andere schimpfte oder sie blöd fand.

Ich glaube heute, sich zu beklagen, wie schwer alles ist und wie komisch andere sind, war wie eine Stärke und ich war deshalb sehr ausdauernd. Wenn ich mich so beklagte, dann mussten mich andere bedauern und viele versuchten mir dann das Leben zu erleichtern, das ich mir nicht zutraute. So hatte ich unbewusst einen Weg gefunden, mit meinem Minderwertigkeitsgefühl oberflächlich zurechtzukommen. Es bemühten sich immer viele Leute um mich, aber ich verstand es früher selbst nicht, warum sie keine Chance hatten, in mir Vertrauen zu wecken.

Mit meinen ständigen Vorwürfen und meiner hartnäckigen Hilflosigkeit war ich für andere oft sehr unangenehm. Heute weiss ich, dass ich in meiner eigenen Gefühlslogik hilflos bleiben musste. So halfen mir andere, meine Schwächen nicht zu merken, aber hatten keine Chance, in mir freundschaftliche Gefühle zu wecken.

Ich war so sehr mit mir und meinem Elend beschäftigt, dass ich gar nie auf die Idee kam, anderen etwas zuliebe zu tun. So stark wirkte mein Gefühl, zu kurz zu kommen. Ich blieb innerlich mit meinen Vorwürfen alleine. Ich musste alleine bleiben, um mit Vorwürfen andere unbewusst dazu zu bringen, sich mit mir zu befassen. Heute ist mir das peinlich, wenn ich daran denke, wie ich andere behandelt habe. Sie bemühten sich oft sehr, aber sie hatten bei mir keine Chance, mich aus meinen depressiven Gefühlen herauszuholen und noch weniger, freundschaftliche Gefühle hervorzurufen.

Ich fühlte mich tatsächlich von allen verlassen und vergass sofort alle netten Leute. Ich war ständig darüber empört, was ich im Gegensatz zu anderen an Zuwendung oder materiellen Gütern nicht bekommen hatte. Aber ich wusste damals nicht, was mich antrieb. Ich hörte erst in der Psychotherapie, dass man alle diese beschriebenen untauglichen Gefühlszwänge einen Minderwertigkeitskomplex nennt.

Mein Zutrauen in mich veränderte sich mit der Zuwendung von anderen nicht. Im Gegenteil, ich verstärkte das Minderwertigkeitsgefühl und es konnte in meiner unbewussten Gefühlslogik immer nur stärker werden.

Ich war schlecht auf das Leben vorbereitet und konnte so auch schlecht lernen. Ich hatte nur die unterste Stufe in der Schule besucht und war die Dümmste von allen. Das war so unangenehm, weil ich eigentlich sehr gut sein wollte. Ich wusste aber gar nicht, wie ich das anstellen konnte. Ich strengte mich oft sehr an, aber es gelang mir kein Fortschritt.

Weil niemand meine Schwierigkeiten im Leben psychologisch verstand, sprach man in der Schule von Konzentrationsschwierigkeiten und einem Aufmerksamkeitsdefizit. So war für mich klar, dass ich das ganze Leben lang dumm bleiben würde. Die Lehrer und sogar Schulpsychologen hatten es herausgefunden. So zog ich mich innerlich noch weiter zurück. Es war damit für mich bestätigt, dass ich überall alleine war und meine Feindseligkeit gegenüber allen anderen vertiefte sich.

Dass ich als dumm und unfähig angesehen wurde, ärgerte mich sehr. Ich wollte es irgendwann einmal allen beweisen, dass sie sich in mir getäuscht hatten. Aber gleichzeitig war klar: Helfen kann mir niemand. Ich muss mich mit diesen Fehlern und meinem Alleinsein abfinden. Doch widerstrebte mir das trotz allem und so hoffte ich insgeheim, dass es nach der Schule besser würde.

Mit 16 Jahren begann ich eine Ausbildung zur Coiffeuse, die ich nach einem halben Jahr wieder abbrach. Ich fühlte mich immer abgelehnt und falsch behandelt, verweigerte mich deshalb auch oft. Ich sagte keinen Ton, war aber offensichtlich oft hässig und ablehnend. Trotz vielem Nachfragen meines Chefs behauptete ich, es beschäftige mich nichts. Stattdessen fühlte ich mich von ihm belästigt. Ich legte in alle hinein, sie benachteiligten mich, wie mich meine Eltern gegenüber der Schwester benachteiligt hatten.

Ich absolvierte danach die einfachste Ausbildung zur Verkäuferin und arbeitete in diesem Beruf. Aber auch dort war ich nicht sehr erfolgreich, denn ich glaubte wieder ständig, man kritisiere mich. Ich zog mich zurück und konnte sehr wenig behalten. Ich hatte wie ein Brett vor dem Kopf. Tatsächlich machte ich in dieser Stimmung auch sehr viele Fehler und fast keinen Fortschritt in der Lehre.

Heute weiss ich, dass die anderen nicht wissen konnten, warum bei mir scheinbar gar nichts half. Oft wurde ich sogar schlechter, wenn man mir mehr erklärte. Wenn ich hilflos war, hoffte ich unbewusst auf mehr Bedeutung. So erlebte ich auch sehr viel Ungeduld, was mich darin bestätigte, dass andere gegen mich waren.

Ohne es zu verstehen, was sich in meinem Inneren abspielte, dehnte ich meinen Zwang auf andere aus. Ich wollte nicht mehr leben. Schon als Kind hatte ich oft das Gefühl, dass die Welt besser ohne mich dran sei. Eigentlich immer, weil ich mich gegenüber meiner Schwester benachteiligt fühlte.

Heute weiss ich, dass das gar nicht der Fall war. Weil ich so schwierig war, befasste man sich viel mehr mit mir. Deshalb fühlte sich meine Schwester sogar immer benachteiligt, was ich erst herausfand, als ich während der Psychotherapie erstmals anfing, mit ihr über ihr Leben zu reden. Sie musste immer zurückstehen, weil ich zu Hause ständig zurückgezogen, vorwurfsvoll und teilweise «steihässig» war.

Ich sah das früher ganz anders. Meine Meinung über die Welt und mich war unverrückbar und gegenüber der Realität resistent. Ich fühlte mich immer abgewiesen und wollte erzwingen, dass man mich in den Mittelpunkt stellte. Ich empfand es jedoch ganz anders: Man soll sich wenigstens einmal mit mir befassen. Und ich glaubte, das wäre nie der Fall gewesen und warf das der Welt vor. Diese Gefühlslage nannte man dann bei mir eine Depression. Sie hielt schon so lange an, wie ich denken kann.

Nach einem Selbstmordversuch drängten mich Freunde, mich in Behandlung zu begeben. Was ich dann auch tat. Es begann ein schwieriger Weg für mich, der Jahre dauerte. Zuerst musste ich Vertrauen zum Psychotherapeut fassen. Das war nicht ganz einfach, da ich doch allen Menschen misstraute. Doch es gelang ihm – zuerst nur ein wenig.

Er zeigte mir unter anderem meine Vorwurfshaltung auf. Es war genau umgekehrt wie ich es glaubte. Die Vorwurfshaltung hinderte mich daran, mich mit anderen Menschen zusammenzutun.

Ich konnte also selbst viel mehr unternehmen, als ich mir je vorstellen konnte. Mein Bild von den Menschen und von mir begann sich zu ändern. Das stellte für mich das erste Mal einen Ausweg für mein Leben dar. So kam ich aus den gröbsten Depressionen heraus. Es war erstaunlich. Es lag nicht an den Depressionen, wenn ich mit anderen nicht zurechtkam. Umgekehrt erzeugte meine Ablehnung der anderen meine depressiven Gefühle, weil ich so keinen Zugang zu den Menschen fand und keine Möglichkeit, im Leben Genugtuung zu erfahren.

Es wurde mir vieles erst bewusst. Jetzt konnte die Arbeit an meinem unbewussten Lebensstil richtig anfangen. Ich wollte mit meinem Minderwertigkeitskomplex fertig werden. Mir wurde nach und nach klar, dass es sich dabei um eine ganze Gefühlsverstrickung handelte. Doch wie?

Ich musste lernen, auf meine Hilflosigkeit zu verzichten und ebenso auf meine ständigen Vorwürfe. Bei diesem Vorhaben stellte sich mir plötzlich die Frage: Was hatte ich vom Leben, wenn ich auf alles verzichtete, was mein Leben bisher ausgemacht hatte? Ich hatte meinen Lebenssinn und meinen Selbstwert darauf aufgebaut, andere mit Hilflosigkeit und Vorwürfen auf mich aufmerksam zu machen.

Bis jetzt wollte ich mit allen Mitteln verhindern, mich auf die unausweichliche Tatsache einzulassen, dass das ganze Leben aus Lernen besteht. Das hätte gezeigt, dass ich schlechter als meine Schwester sein würde. Meine Eifersucht war so gross, dass ich das nicht ausgehalten hätte und deshalb das Leben anders leben wollte oder es anders versuchen musste.

Mein Gesprächspartner schlug mir nach einiger Zeit deshalb unter anderem vor, wieder eine Arbeit zu beginnen und einen Deutschkurs zu besuchen, der von einfühlsamen und psychologisch geschulten Lehrern in einem Bildungszentrum angeboten wurde.

Ich hatte Mühe zu verstehen, weshalb es nicht reichte, über meine Kleinheitsgefühle zu reden. Es hätte mir besser gefallen, alle Ungerechtigkeiten in meinem Leben immer wieder jemandem zu erzählen. Ich wäre – wie bisher so oft – viel lieber in eine geschützte Umgebung gekommen, in der man von mir wenig oder nichts verlangte und mich vielleicht noch mit viel Mitleid über mein bisheriges Leben bedauert hätte – auch wenn ich mich gleichzeitig kleingehalten gefühlt hätte.

Ich fühlte mich deshalb längere Zeit nicht verstanden, war wieder einmal voller Vorwürfe gegen meinen Gesprächspartner und hatte mich schon bei einer anderen Psychiaterin angemeldet. Vielleicht hätte diese mich besser geschützt und meiner Vorwurfshaltung gegenüber den Menschen recht gegeben. Ich ahnte aber doch durch die vielen Gespräche bei meinem Gesprächspartner und in vielen therapeutischen Gruppen: Es wird mir besser gehen, wenn ich das Leben direkt anpacke.

Mein Gesprächspartner behauptete immer, dass ich Mut im Leben und Lernfreude entwickeln kann, wenn ich meinen Lebensstil aufgebe, mit Nicht-Mitmachen gross werden zu wollen und es damit anderen zu zeigen, wie viel besser ich selbst sein könnte und auf meine Art und Weise alle anderen zu überflügeln.

Meiner Meinung nach war ich eigentlich zu dumm dazu, bei einer Arbeit oder in einem Kurs etwas zu lernen. Dank seiner Überzeugungskraft keimte aber eine kleine Hoffnung, dass ich ein Leben wie andere führen könnte. Nach langem Zögern nahm ich das Angebot doch an, mit einem psychologisch geschulten Lehrer zu lernen. Dieser gab dann meinen Ausweichmanövern und meinem Jammern nicht recht, indem er sie fröhlich übersah und überhörte.

Aber da ich mich immer unfähig fühlte, wich ich immer wieder aus und erledigte kaum die gestellten Hausaufgaben. Meine Antworten auf seine Fragen waren sehr oft: «Ich weiss nicht, keine Ahnung.» Er gab allerdings nie auf und sprach mich immer wieder auf diese Ausweichmanöver an.

Ich lernte zu verstehen, was meine Gefühle dem Lernen gegenüber verursacht hatte und wie sie entstanden waren. Mit seiner Hilfe und später noch mit anderen aus einer psychotherapeutischen Gruppe erfuhr ich immer mehr, dass meine Ängste unbegründet waren. Mein Gesprächspartner und der Lehrer liessen sich von meinen ausgefeilten Kleinheitsgefühlen nicht beirren und flössten mir unerschütterlich Mut zum Lernen ein.

Sie machten mich zudem immer wieder darauf aufmerksam, wenn ich etwas gut gemacht hatte. Dadurch wurde mir klar: Es war auch mir möglich zu lernen und gute Noten zu erhalten. Vorher war ich überzeugt: Wenn ich anfangen würde zu lernen, bewiese ich nur, dass ich nie erfolgreich lernen könnte. Nun wurde mir klar, weshalb ich ausprobieren musste zu lernen.

Nur mit Reden hätte ich niemals diese Erfahrung gemacht und wäre im Selbstmitleid über das schwere Leben steckengeblieben. Gleichzeitig musste ich in der soziotherapeutischen Umgebung in einem Tageszentrum einige Monate lang lernen, wie ich mich am besten im Berufsleben zurechtfinden konnte – sowohl im geschäftlichen als auch im zwischenmenschlichen Bereich.

Auch musste ich mir aneignen, wie ich Freundschaften aufbauen und pflegen konnte. Ich hatte vor vielem Angst und wich jeder Verantwortung aus. Wenn es galt, eine Aufgabe zu übernehmen, der ich mich nicht gewachsen fühlte, stellte ich mich so lange als hilflos dar, dass die anderen Menschen keine andere Chance sahen, als diese Aufgabe für mich zu übernehmen.

Im zwischenmenschlichen Bereich erlebte ich natürlich auch alles sehr stark auf dem Boden meiner Kindheit. Mein Gesprächspartner half mir zu verstehen, was in mir vorging, woher meine Ängste und meine Eifersucht kamen und wie ich mit schwierigen Situationen fertig werden könnte.

Ich merkte erst mit der Zeit, wie wenig ich in meinem Gefühlsleben zur Verfügung hatte, um mein Leben mit anderen gut zu gestalten. Ich hatte als Kind zu wenig Konstruktives entwickelt. Bei Problemen hatte ich zu Hause kaum ein offenes Ohr gefunden. Ich hatte auch kaum erlebt, dass man lernen konnte, mit anderen auszukommen. Ich habe mich anderen Menschen sehr stark ausgeliefert gefühlt. Ich hatte geglaubt, dass ich von der Freundlichkeit der anderen Menschen abhängig war und andere Menschen sich nur mit mir beschäftigen würden, wenn es mir nicht gut ginge.

In verschiedenen schwierigen Situationen lernte ich meine Reaktionen zu verstehen und anders zu reagieren. Mein Gesprächspartner führte mich im Gespräch auch immer wieder an andere Menschen heran und half mir, deren Reaktionen besser zu verstehen. Er gab mir auch Ratschläge, wie ich in diesen Situationen reagieren könnte, so dass sich die Situation entschärfte. Deshalb konnte ich auch auf eine andere Art und Weise reagieren.

Ich lernte langsam anderen Menschen zu vertrauen und mich auf andere Menschen und auf meine Freunde abzustützen. Meine Gefühle änderten sich natürlich nicht so schnell. Oft musste ich mich zwingen, etwas auszuprobieren.

Dieser ganze Prozess beinhaltete selbstverständlich auch die Entscheidung, dass ich meine Gefühle und mein Leben ändern möchte. Dies war keine einmalige Sache. Die hatte ich immer wieder zu treffen, wenn ich wieder in meine alten Verhaltensweisen und Gefühlsverwicklungen zurückfiel – auch heute immer wieder.

Nach einigen Wochen in dem Tageszentrum wurde ich mutiger, war gefestigter und erlebte nicht mehr alles gegen mich. So nahm ich wieder eine Stelle als Verkäuferin an. Dort erlebte ich immer wieder dasselbe: Hilflosigkeit, wenn mir etwas schwierig erschien; innerliche Vorwürfe, wenn mich jemand nicht entlastete; Gekränktsein, wenn jemand eine kleine oder grössere Kritik äusserte; Ablehnung von anderen, die mich nicht besonders stark beachteten; ständiger Vergleich mit anderen, die besser waren als ich, und die ich dann bei anderen abwertete. Ich konnte all dies mit den Therapeuten und in den Gruppentherapien immer wieder besprechen und mich nach und nach anderen Gefühlslagen annähern.

Wie gesagt, meine Gefühle entsprachen anfangs nicht dem, wie ich reagieren sollte oder versuchte zu reagieren. Es war gar nicht einfach, mich auf etwas Neues einzulassen. Beim Alten fühlte ich mich sicherer und ich war es ja gewohnt, so zu empfinden und zu reagieren. Von Anfang an garantierte mir meine Gesprächspartnerin, dass ich besser im Leben zurechtkäme, wenn ich mich darauf einlasse, meine zufällig entstandene Gefühlshaltung zu überprüfen. Doch ich glaubte es ihr kaum. Ich musste den Mut finden, dies auszuprobieren.

Mit der Zeit fand ich jedoch heraus, dass es tatsächlich mit Freunden und auch im Geschäft besser ging, wenn ich mich innerlich mehr auf sie einliess. Ich fühlte mich nicht mehr so hilflos und merkte, dass ich mehr zu einem guten Zusammenleben beitragen konnte, als ich geglaubt hatte. Ich fasste langsam Vertrauen in mich selber und auch in die anderen Menschen. Das Leben fing an, mehr Spass zu machen.

Heute bin ich sehr viel mutiger geworden. Ich habe herausgefunden, dass es möglich ist, mit anderen Menschen auszukommen. Ich merkte auch, dass ich fähig bin, viel mehr zu erreichen, als ich angenommen hatte.

Im beruflichen Bereich absolvierte ich eine Ausbildung zur Angestellten und fand eine Stelle im Büro. Einige Jahre später wechselte ich in ein anderes Büro, wo ich noch mehr herausgefordert war, und bestand sogar eine berufsbegleitende höhere Ausbildung.

Ich weiche Aufgaben, die neu und ungewohnt sind, nicht mehr aus. Jetzt übernehme ich sogar gerne Verantwortung und es macht Spass, wieder etwas Neues auszuprobieren. Im zwischenmenschlichen Bereich fand ich mehr Freunde und kann ihnen gleichwertiger begegnen, auch wenn es mir immer noch schwerfällt, für andere etwas einzusetzen und Freude daran zu haben, wenn sie sich freuen.

Selbstverständlich ist dieser Weg nicht beendet und ich verirre mich manchmal wieder in meine alten Gefühle. Doch es ist viel einfacher, mich wieder aus diesen Gefühlen herauszuarbeiten, da diese Empfindungen nicht mehr so stark auftreten. Ich bin froh, dass ich nicht einen Weg in die Schwäche gewählt habe und mich in einer geschützten Umgebung und mit unbewusst erzwungener Sozialhilfe darin erhalten hätte.

 Ich hatte und habe grossartige Hilfe: Menschen, die mich nicht gehen liessen, auch wenn ich vor Herausforderungen fliehen wollte und sogar dabei blieben, wenn ich mich darüber ärgerte, dass ich meinen untauglichen Lebensstil nicht weiterverfolgen konnte. Menschen, die mir halfen, auf andere zuzugehen, anstatt mich in meiner unbewussten Haltung über diese zu stellen und sie abzuwerten. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich hoffe, dass viele solche Hilfe bei psychologisch geschulten Menschen finden.

Selbstbezogenheit, Vorwurfshaltung, Einsamkeit, Ängste und Depressionen

Der neurotische Charakter ist unfähig, sich der Wirklichkeit anzupassen, denn er arbeitet auf ein unerfüllbares Ideal hin.

(Alfred Adler)